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Autorenbildsimis

Human

Aktualisiert: 30. Dez. 2024

Vor einiger Zeit saß ich in einer Bar, trank ein Bier und aß etwas, aber meine Portion war zu groß. Neben mir saß ein älterer Mann, klein und spindeldürr, blond gefärbte lange Haare. Er grinste mich verschmitzt an und ich fragte ihn, ob er mitessen mag. Er verneinte. Aß dann aber trotzdem mit.


Ich schaute ihn an und fragte ihn, wer er ist. Wie ich das immer mache. Er erzählte mir, dass er ein erfolgreicher Kunst- und Antikschreiner in der Stadt war. Er wirkte leicht desorientiert und betrunken und teilte mir auch all seine Lebens- und Liebesgeschichten mit.


Ich merkte, wie uns die Menschen um uns ansahen. Es wurde mir peinlich, weil er gestikulierte und lallte.


Irgendwann sagte Bruno: „Ich verstehe nicht, warum du alles verstehst, was ich sage.“ Ich war irritiert. „Warum?“, fragte ich und er sagte: „Ich hatte zwei Schlaganfälle und kann mich nicht mehr richtig artikulieren. Die meisten Menschen verstehen mich nicht und denken, ich sei betrunken, weil ich beim Gehen auch schwanke.“ Puh, so leicht kannst du dich täuschen.


Ich merkte sofort, dass dieser Mann sehr intelligent ist. Aber irgendwie hatte er seine Hemmschwellen im Dialog verloren. Er sagte jedem einfach, was ihm gerade in den Sinn kam. Was mir dabei aufgefallen ist, dass das Servicepersonal ihn sehr menschlich und zuvorkommend behandelte. Ein übler Kerl scheint er also nicht zu sein.


So verging die Zeit, immer wenn ich wieder in die Bar kam, war Bruno da und freute sich riesig, mich zu sehen. Er scheint wohl nicht so viele Freunde zu haben und ist vermutlich einsam. Irgendwann saß ich wieder in der Bar und sah Bruno gegenüber auf der anderen Straßenseite vor einer Bäckerei. Er kam sofort zu mir und sagte freudig: „Ich warte immer, bis du kommst.“ Was für ein Kompliment, ich mag den alten Mann.


Gestern Abend, ich kam in die Bar und Bruno saß da völlig niedergeschlagen. Wie immer kam ich rein und begrüßte ihn und fragte ihn, wie es ihm geht. Er schaute mich an und sagte gefasst: „Heute ist ein schwarzer Tag, nun darf gar nichts mehr passieren, sonst kann ich mich erschießen.“ Diesmal war er betrunken. Ich fragte, was los ist und er sagte gefasst: „Ich habe alles verloren.“ Ich fragte: „Was hast du verloren?“ und er zeigte auf die gegenüberliegende Straßenseite, da wo seine Wohnung war.


Mich traf der Schlag, die ganze Fassade ist verkohlt und schwarz. Seine Wohnung und sein ganzes Leben wurden vom Feuer zerstört. Ich fragte, wie das passiert ist und er sagte: „Meine Liebe, meine Musik.“ „Wie meinst du das? Deine Musik?“ Er sagte: „Mein Plattenspieler hat gebrannt.“


Ich war baff und wir saßen da eine Weile und dann kam Flavio, ein weiteres Urgestein der Stadt, um die Ecke, welchen ich auch schon länger kenne. Er kannte die Geschichte schon und bot Bruno an, bei ihm zu schlafen.


Wir tranken noch zwei bis drei Bier. Eher schweigend. Wie willst du einem Menschen in einem solchen Moment Trost spenden? Ich glaube, das geht nicht. Gemeinsam schweigen reicht.


Irgendwann sagte Flavio: „Wir gehen in deine Wohnung. Ich will sehen, ob wir etwas retten können.“ Bruno willigte ein. Wir gingen rein. Schon im Flur roch es sehr penetrant nach Rauch. Nachbarn kamen uns wortlos entgegen mit verachtendem Blick.


Bruno schließt die Wohnung auf und sagt: „Ich kann leider kein Licht machen, ich habe keinen Strom.“ Wir kamen rein und ich wusste sofort, hier ist gar nichts mehr zu retten. Ein Bild des Grauens. Bruno ging rein und hob seine geschmolzenen Schallplatten auf und hatte Tränen in den Augen und ich fragte ihn, was mit den drei Gitarren in der Ecke ist. Sie waren unversehrt. Da war sein Strahlen in den Augen wieder und er sagte: „Die eine rechts ist sehr wertvoll.“ Er schaute alles an, nahm ein verkohltes Stück nach dem anderen vom Boden auf, schaute es an und fing leise an zu summen. Alles verkohlt, sein ganzes Leben.


Ich war so wortlos wie noch nie in meinem Leben. Von ihm ging eine unfassbare Traurigkeit, aber auch ein unbändiger Wille und eine Kraft aus.


Wir gingen runter auf die Straße und ich sagte mit konsterniertem Blick zu beiden: „Ich melde mich bei euch.“ Ich schaute in die Menge, in die fröhlichen Gesichter im belebtesten Viertel der Stadt und dachte: „Gut, dass die von nichts wissen.“


Nun denn, Simis, du rühmst dich doch immer, jedes Problem zu lösen. Aber einen solchen Schicksalsschlag? Was tust du?


Der Moment ließ mich den ganzen Abend und die ganze Nacht nicht los. Am Morgen stand ich auf und schon beim ersten Kaffee klärte ich die Rechtslage. Ich fand heraus, dass ihm die Stadt gratis eine Wohnung anbieten muss, weil er unverschuldet obdachlos wurde. Und weil Bruno nicht versichert ist, erklärte ich seine Lage in einer FB-Gruppe „Menschen für Menschen“.



Was dann zurückkam, war unglaublich überwältigend. Alle wollten helfen. Mit Möbeln, Wohnungen und sogar Geld, sodass ich überfordert war, auf jede Nachricht zu reagieren. Diese Nachrichten zeigte ich heute Flavio und er war ebenfalls baff. Morgen früh stehe ich auf und teile Bruno die Nachricht mit, dass er sehr bald wieder ein Ruheplätzchen für sich hat.





Ich freue mich sehr, dass Happyend teile ich euch gerne noch mit.


@simis, gleichmässig traurig und glücklich mit dem Song Mensch.

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