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  • Autorenbildsimis

Die Angst vor der Angst

Aktualisiert: 18. Apr.

Ich habe schon mal einen Blog über Angst geschrieben, aber im Zusammenhang, wie Angst entsteht und genutzt wird Macht der Angst. Nun beschreibe ich wie sie wirkt und erzähle euch dazu eine tierische Geschichte, als Metapher.


Vor genau einem Jahr kam Lio zu mir. Lio ist ein wunderschöner schneeweisser Kater, man könnte meinen, ein Kuscheltier und Statusobjekt. Weit gefehlt, er ist in seinem Verhalten ein ursprüngliches Wildtier. Er hat den Instinkt und ist auch im Körperbau ein richtiger Athlet.


Lio kam zu mir, weil er verhaltensauffällig war und ich ein fremdernannter Katzenflüsterer sein soll. Er war damals erst ca. ein halbes Jahr alt und ich bereits sein vierter, aber letzter Weggefährte. Lio griff ohne sichtbare Warnung fremde Menschen und Tiere an. Sehr untypisch.


Als ich ihn bei seiner Vorbesitzerin holte, war die Situation angespannt. Man weiss nie, wann er zupackt und wenn er das tut, tut er dies sehr massiv. Ich liess ihn zuhause aus dem Korb und er stolzierte sehr selbstbewusst und in keinster Weise unsicher durch sein neues Zuhause. Er war sich seiner Sache sehr sicher. Ich bin die unangefochtene Nummer 1 auf der ganzen Welt. Bis er auf meinen knapp 9 Kg schweren, sicheren und gutmütigen Ragdoll Kater traf.


Sein sofortiger Angriff wurde mit einem Hieb geklärt und beide waren gleichermassen verwirrt. Seine Wut der Unterlegung lies er dann an mir aus und ich packte ihn am Genick, wie das Katzenmamas tun um ihre Jungen zu tadeln und da drehte er total durch. Er griff meine Hände und Schuhe an. Ich dachte wow was für eine Energie und entschuldigte mich sofort mit ruhiger Stimme bei ihm.


Ich sagte: Ist gut Lio ich habe dich verstanden, du magst keine Hände und Schuhe, dir wurde wohl sehr weh getan, aber nun ist das vorbei und darfst für immer bei mir bleiben.

Er beruhigte sich sofort und ich erinnerte mich an die Worte, seiner Vorbesitzerin, dass er sich gerne in der Höhe aufhält. Ich fasste ihn unter der Brust und hob ihn mit blutenden Händen hoch und brachte ihn bewusst zum Katzenbaum auf meine Augenhöhe. Ich hielt meinen Kopf hin und küsste ihn auf die Stirn und er begann zu Schnurren.


Das wars. Keine Ausbrüche und Gewalt mehr. Ich war selber überrascht. Lio wurde geschlagen und getreten in der Vergangenheit. Darum war er so. Die darauffolgenden Wochen lernte ich ihn, dass Hände und Füsse auch Gutes bewirken und fütterte ihn mit Händen und Füssen. Haha, bitte keine Bilder im Kopf!



Es begann eine innige Zeit und Lio war überglücklich und als ich ihn rausliess und er seine aufgestaute Energie abbauen konnte, wurde er ein sehr ausgeglichener Kater, bis er eines Tages immer weniger nach Hause kam und irgendwann ganz verschwand.


Ich suchte ihn und hängte Plakate auf. Bald darauf wurde ich von wütenden Menschen angerufen. Ihre Katze ist bei einer alten Frau in unserem Quartier und greift sie, unsere Kinder und Katzen an und verletzt sie zum Teil schwer.


Ich ging sofort hin. Lio war in der Wohnung der alten Frau und kam sofort zu mir und strich sichtlich erleichtert um meine Beine. Wie wenn er sagen wollte, endlich kommst du.


Ich sprach lange mit der alten Frau und fand heraus, dass sie immer Futter draussen hat und sie alle Katzen im Quartier regelmässig besuchen und dass sie Lio sehr mag, aber seit er hier ist keine andere Katze mehr kommt.


Aha. Die Frau tat mir leid, sie war wohl sehr einsam, aber ich bat sie Lio nicht mehr zu füttern. Eine lange Geschichte, welche, weil sie nicht aufhörte, mit der Drohung einer Strafanzeige endete.


Lio veränderte sich. Ich bekam immer mehr Anrufe von Menschen, dass er sie angreift und verletzt. Also entschied ich ihn nicht mehr rauszulassen, bis ich die Ursache für sein Verhalten kannte, denn zu mir war er jederzeit friedlich.


Eine schwere Zeit begann, er baute wieder negative Energie auf und drehte in der Wohnung richtig durch. Ein eigesperrtes Wildtier. Ich kaufte Bachblütentropfen, um ihn zu beruhigen und nahm sie am Ende auch selbst. Haha!


Meine Arbeit, Lio zu sozialisieren begann durch das Handeln der alten Frau von vorne. Ich war wütend und frustriert, wollte aber keinesfalls aufgeben. Lios Verhalten wurde immer schlimmer und sogar mein grosser Kater wich ihm aus und hatte Angst vor ihm, was Lio, welcher zu einem richtigen Muskelpaket herangewachsen war, ermutige auch ihn zu terrorisieren.


Was sollte ich tun. Ich war ratlos. Aufgeben und ihn weggeben? Niemals! Ich habe ihm ein Versprechen gegeben und breche ein Versprechen nie. Manchmal frage ich mich, ist dies eine Stärke, oder eine Schwäche von mir? Zudem, wem sollte ich ihn geben. Wenn ich das nicht schaffe, schafft dies niemand.


Nun aber zum Wesentlichen, warum ich diesen Blog schreibe. Ich verstand nicht warum Lio andere angriff und mich nicht. Ich hatte regelmässig Besuch von Freunden, welche kamen und gingen und Lio ignorierte sie. Es folgte keine Reaktion auf diese Menschen. Ich wunderte mich.


Dann gab es drei Besuche, bei denen sich Lio ganz anders verhielt, alle kannten Lios Geschichte, reagierten aber anders:


  1. Mein langjähriger Freund und Lieblingsbauer, über welchen ich auch schon geschrieben habe.  Landwirtschaftliche Philosophie. Er kam rein mit seiner Ruhe und Lio kam sofort zur Türe und begrüsste ihn und mein Freund ihn. Wir tranken ein paar Bier und hatten wie immer gute Gespräche und Lio lag den ganzen Abend entspannt bei seinen Füssen.

  2. Dann lernte ich eine Frau kennen und sie besuchte mich ein paarmal. Lio begrüsste sie auch immer, war aber sehr angespannt. Er sprang ihr immer auf den Schoss, hatte dabei einen irren Blick und niemand durfte ihn anfassen, sonst hätte es geknallt. Aber er verhielt sich ruhig. Speziell.

  3. Irgendwann kam ein anderer Freund, welchen ich auch schon sehr lange kenne. Er kam zur Türe rein und fragte wo ist Lio. Ich fragte warum. Er sagte ich will nicht angegriffen und verletzt werden. Ich sagte er tut dir sicher nichts und wir gingen ins Wohnzimmer. Dann kam Lio. Mit irrem Blick und grossen schwarzen Pupillen. Hätte ich nicht eingegriffen, hätte er meinen Freund sofort angegriffen ohne Grund. Ich war schockiert. Was war das? Da war dieses Verhalten, welches ich von anderen Menschen zwar hörte, aber bis zu diesem Zeitpunkt nie real sah.

 

Hmmm? Das war ein Ansatz. Ich fing an nachzudenken. Was ist passiert und warum verhält sich Lio bei jedem Menschen anders. Etwa eine Woche später entstand eine Situation. Lio war auf dem Billardtisch und ich wollte ihn beim Vorbeigehen streicheln und er griff mich sofort an. Das erste Mal seit dem ersten Tag, als wir dies eigentlich geklärt hatten.


Ok?


Meine Hand blutete, ich blieb ruhig, setze mich hin und schaute ihn an. Was war das? Ich wusste sofort und intuitiv, dass ich der Auslöser sein musste, aber warum? Ich habe nichts getan und war freundlich zu ihm.


Ich ging in mich, ich wusste, wenn ich die Ursache für dieses Verhalten rausfinde, kann ich Lio sozialisieren. Was war also meine Emotion? Und plötzlich viel mir alles wie Schuppen von den Augen.

 

So ist auch die Situation im Quartier entstanden, in welchem er die Menschen angriff. Und nur in diesem Quartier hat er Menschen angegriffen.


Lio wurde von einem alten Mann getreten, weil er mit dessen Katze einen Revierkampf hatte. Der Mann hatte Angst um seinen alten Kater, welcher nun sein Revier an den jungen Lio abtreten musste und ich hatte, als er mich angriff, Angst vor einer Situation am folgenden Tag.


Darum heisst dieser Blog Angst vor der Angst. Lios Verhalten ist darin begründet, dass ihn nur Menschen geschlagen und getreten haben, welche vor ihm Angst hatten. Lio hat Angst vor dieser Angst. Es war also unbewusste Verteidigung und kein Angriff.


Ok, damit kann ich umgehen.


Von nun an begegnete ich Lio bewusster. Ich achtete auf meine Emotion. Das wars. Keine Aggression mehr, einfach nichts. Er war der ruhigste Kater und sehr ausgeglichen. Aber wie konnte ich sicherstellen, dass er diese Angst vor der Angst verliert und keine Menschen und Katzen mehr angreift?


Und dann kam die zündende Idee, für welche mich alle meine Freunde, welche Lio und mich kannten für verrückt erklärten. Lio war zu bezogen auf mich, er lernte alles von mir und verhielt sich bald mehr wie ein Mensch, als wie eine Katze, trotz all seinen Trieben als Wildtier. Er hatte ein riesiges Chaos in seiner Gefühlswelt und vertraute nur mir.


Also wer bitte kann eine Katze besser sozialisieren als ein Mensch?


EINE KATZE!


Mein alter Kater Lenny hatte die Schnauze voll und ignorierte Lio gekonnt. Die Lösung war eine dritte Katze, ein junger sehr selbstbewusster Kater, welcher Lio ebenbürtig ist. Verrückt, ich weiss. Wenn man schon zwei Katzen hat, die sich nicht verstehen.


Mein bester Freund und verstorbener Kater Gismo, mit welchem ich 17 Jahre meines Lebens teilte, war sehr selbstbewusst und menschenbezogen. Er hatte alles in sich, das Wildtier, den Leader und blieb trotzdem immer freundlich. Ich brauchte eine Katze wie Gismo. Einen norwegischen Waldkater.


Es ist schwierig eine Katze zu finden nach Charaktereigenschaften und dann las ich dieses Inserat über einen jungen Kater, welcher sehr freundlich ist, aber das Problem sei, dass er vor nichts Angst hat und deshalb an einen sicheren Platz muss.


Haha dachte ich, da bist du also.


Ich befragte die Halterin und schilderte meine Situation. Sie versicherte mir dass diese Katze die Richtige ist. Zwei Tage später zog Mailo, was übersetzt der Ausgleichende bedeutet, bei mir ein.



Selbstbewusst und furchtlos ging er aus dem Korb direkt auf Lio zu und was machte der: Komisch in die Welt kucken. Natürlich kam das übliche Geplänkel noch. Lio griff Mailo auch an, aber dieser reagierte nicht, er machte sich einen Spass daraus und verwandelte mit seiner Intelligenz und Unbeschwertheit alles in ein normales Spiel zwischen zwei jungen Katzen. Genau das kannte Lio nicht, für ihn war davor alles Gefahr. Bald tollten sie vergnügt durch die Wohnung und begrüssten sich sehr innig und irgendwann ging mein Plan auf. Auch der alte Kater Lenny konnte sich dieser Energie nicht entziehen und schloss sich an.


Heute, ein halbes Jahr später ist Lio der akzeptierte Leader des Katertrios und in seiner angestrebten Rolle, welche zuvor durch Menschenhand verhindert wurde. Ich habe nie mehr eingegriffen und sie alles selber auf Katzenart klären lassen.


Alle dürfen wieder raus und es herrscht Harmonie. Ich kriege keine Anrufe mehr von verletzten Katzen und Menschen aus der Nachbarschaft. Alle drei haben eine enorme Bindung zu mir und ich bin sehr stolz auf Lios Wandel. Er bleibt ein Wildtier, aber er ist nun sehr sozial und freut sich jedes Mal wie ein kleines Kind, wenn ich nach Hause komme.


Aber warum erzähle ich diese Geschichte als Metapher?


Nicht Hass, sondern Angst ist das Gegenteil von Liebe.

Diesen Satz habe ich in einer Studie von Fritz Riemann, dem bekanntesten Angstforscher gelesen. Angst ist der schlechteste Berater für jede Lebenslage.


Wer Angst hat, verliert die Kontrolle über sich selbst. Darum hat Lio Angst vor Menschen, welche Angst vor ihm haben. Diese Menschen sahen nur die schöne Katze und stellten die Erwartung an ihn, sich unterzuordnen und eine tolle Hauskatze zu werden, wie man es halt so kennt. Aber Lio ist ein Leader und wird dies auch immer bleiben und für diese Rolle kämpfen. Ein paar Kratzern am Kopf, wenn er sich wieder einmal messen musste, sind weniger schlimm als eingesperrt zu sein.



Ich lese und höre sehr viele Geschichten von Menschen über Konflikte und Gewalt. Oft erkenne ich keine Feindseligkeit hinter dem Handel sondern Angst. Es gibt keine gefährlichere Emotion, weil diese Menschen sich schützen und sich nicht scheuen, dafür anzugreifen.


Aus Liebe entsteht nie Gewalt, oder Hass, sondern aus Angst. Deshalb kann Angst denjenigen, welche sie spüren, Angst machen.


Dass ist die Moral der Geschichte.


@ simis, der Mann mit der weissen Katze mit dem passenden Song: Lass mich dein Führer sein



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